Impfen? – Nicht impfen?
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Es ist heute unmöglich Teil unserer Gesellschaft zu sein, ohne persönlich mit der Frage der Impfung konfrontiert zu sein. Freundschaft und Feindschaft entscheidet sich an dieser Frage und mit der Eventualität einer kommenden Impfpflicht wird die Situation nicht entspannter. Die Frage, die wir uns aus christlicher Perspektive dazu stellen müssen, lautet: Was denkt Gott dazu? Hat jemand, der die christliche Botschaft ernst nimmt, wirklich die Wahl so zu handeln, wie er/sie mag? Um eine Antwort auf unsere Frage zu erhalten, müssen wir uns mit etwas beschäftigen, was Theolog*innen „adiaphoron[1]“ nennen.
Während explizite Gebote und Verbote (z.B. Du sollst nicht stehlen) eine klare Unterscheidung zwischen richtig und falsch bewirken, geht es bei adiaphora um Handlungen, die sich nicht eindeutig in richtig oder falsch einordnen lassen, wo aber dennoch eine Entscheidung notwendig ist (z.B. An welchem Tag sollte man am besten den Tag des Herrn feiern? Samstag, wie der jüdische Sabbat? Sonntag, in Erinnerung an die Auferstehung des Herrn? Oder gibt es keinen besonderen Tag?). Verbucht man die Impfentscheidung als Adiaphoron, würde es einen Unterschied im Umgang mit der Frage und den Meinungen anderer machen. Handelt es sich nicht um ein Adiaphoron, dann müsste man es der Kategorie Gebote/Verbote zuordnen.
In unserer Überlegung werden wir uns im ersten Schritt die Merkmale eines Adiaphoron anschauen. Danach werden wir die Impfentscheidung anhand dieser Merkmalen prüfen, um dann zu einem Fazit zu gelangen. Zum Schluss wollen wir praktisch werden, durch eine Reflexion zur persönlichen Anwendung.
Merkmale von adiaphora[2]
Wenn es um Adiaphora geht, haben wir zwei zentrale Stellen im Neuen Testament, die uns helfen das Thema zu verstehen. Sie befinden sich in zwei Briefen des Aposteln Paulus: Römer 14; 1. Korinther 8-11. In Rom streitet die Gemeinde einerseits um die Frage, ob Christen sich von bestimmten Speisen fernhalten sollten oder ob es ihnen frei steht, alles zu essen. Andrerseits streiten sie sich, ob es bestimmte Wochentage gibt, die für Christen „heilig“ sein sollten oder nicht. In Korinth dreht sich der Streit der Christen ums Fleisch: Darf ein Christ Fleisch essen, was zuvor anderen Gottheiten geopfert worden ist, ohne dadurch den Götzendienst zu unterstützen? Paulus zeigt der Gemeinde, dass es sich in beiden Fallen um Adiaphora – d.h. Nebensächlichkeiten bzw. Randthemen – handelt. Wichtig in diesen Briefen ist, dass Paulus hier zeigt, was ein Adiaphoron ausmacht und wie man damit umgehen soll. Der Professor für Neues Testament D.A. Carson hat genau diese Untersuchung gemacht[3] und er benennt in seiner Arbeit vier Merkmale eines Adiaphoron:
1. Adiaphora betreffen keine zentralen biblischen Themen
Adiaphora sind keine Themen, worüber die Bibel durchgehend spricht (wie z.B. Gottes Liebe, Gottes Wille zum Heil). Es sind auch keine Themen, worauf sich die biblische Logik stützt, um Aussagen über andere Themengebiete zu machen (wie z.B. Jesus stellvertretender Tod hat beispielsweise Einfluss auf die Art, wie wir aufopfernde Liebe in Beziehungen leben). Somit bleiben Adiaphora immer „Randthemen“ des Glaubens.
2. Recht haben bedeutet nicht Gott ehren
In Römer 14 sehen wir, dass Paulus denjenigen Recht gibt, die sich keine Speiseeinschränkungen auferlegen. Er sagt, dass keine Speise „an sich selbst unrein ist“ (Röm. 14, 14). Jedoch lautet seine Schlussfolgerung:
„Genauso ist es bei dem, der alles isst: Er tut das, um den Herrn zu ehren, denn für das, was er isst, dankt er Gott. Und auch der, der bestimmte Speisen meidet, tut das, um den Herrn zu ehren; auch er isst nichts, ohne Gott dafür zu danken“
Römer 14, 17
– also beide ehren Gott. Das ist ein weiteres Merkmal von Adiaphora: Das „richtige“ nicht zu tun, hindert nicht daran Gott zu ehren. Warum? Weil es sich um Nebensächlichkeiten handelt und nicht um Kerninhalte des Reich Gottes.
3. Es zählt das Gewissen
Wenn es nicht um das „Richtige“ geht bei Adiaphora, woran sollte man dann sein Handeln orientieren? Paulus` Antwort lautet das Gewissen. Wer in seinem Gewissen überzeugt ist, dass es vor Gott richtig ist, nicht alle Speise zu essen, MUSS entsprechen handeln – anders zu handeln wäre schlecht, sogar Sünde (Röm. 14, 20-23). Weiterhin wer überzeugt ist, dass keine Speise an sich unrein ist und dementsprechend danach für sich handelt, handelt falsch, wenn er jemanden mit der gegenseitigen Überzeugung dazu drängt, gegen seinem Gewissen zu handeln (Röm. 14, 13-15). Bei Fragen, die zur Kathegorie Adiaphora gehören, sind wir also dazu berufen sowohl unser Gewissen als auch das von anderen zu achten.
4. Kontext is king
In 1. Korinther entdecken wir ein weiteres Merkmal von Adiaphora. Im Kontext geht es um die Frage, ob Christen Fleisch, was zuvor einer Gottheit geopfert wurde, essen dürfen (damals war es üblich, dass Fleisch, was in einem Tempel geopfert wurde, anschließend auf dem Marktplatz zum Verkauf freigegeben wurde). Hier haben sich wiederum 2 Gruppen gebildet: die einen hatten damit keine Problem, die anderen sahen darin ein Gefahr für Christen wieder dem Götzendienst zu verfallen. Ähnlich wie im Römerbrief, ist Paulus der Meinung, dass es an sich nicht falsch ist solches Fleisch zu essen (1. Kor. 8, 4-6). Aber da es sich wieder um ein Adiaphoron handelt, betonnt Paulus, dass man sich nach dem eigenen Gewissen und dem der anderen orientieren sollte (1. Kor. 8, 7ff.). Demnach dürfen Christen mit der entsprechenden Gewissenshaltung das geopferte Fleisch kaufen. Allerdings in verbietet Paulus in 1.Kor. 10, 14-22 das Essen von geopfertem Fleisch am Altar der Gottheiten. Das bedeutet für uns, dass sich ein Adiaphoron zu einem Gebot ändern kann, wenn sich der Kontext ändert und es mit einem klaren Gebot kollidiert – in diesem Fall mit dem ersten Gebot. Das ist eine wichtige Beobachtung – Kontext is King!
Ist die Impfentscheidung ein Adiaphoron?
Gemäß dem ersten Kriterium müssen wir uns die Frage stellen, ob eine „Impfung“ eine zentrale Frage der Schrift ist. Hier muss man klar sagen, dass wir in der Schrift keine explizites Gebot/Verbot in dieser Richtung sehen. Was für ein Adiaphoron sprechen würde.
Allerdings kann man die Impfung als praktische Anwendung eines zentralen Themas der Bibel sehen, nämlich Nächstenliebe. Da wo Menschen die Impfung als besten Weg verstehen, um weniger Menschen zu gefährden, indem das Ansteckungspotenzial geringer ist (selbst wenn nicht gleich null) und durch das Geringere Risiko eines schweren Verlaufes anderen keinen Platz auf Intensivstationen wegnehmen, dann wird das Impfen zu einem „MUSS“– nämlich die praktische Anwendung des Gebots der Nächstenliebe. Man könne es in diesem Fall nicht mehr als Adiaphoron sehen, es sei denn wir haben eine bessere Möglichkeit anderen zu schützen. In so einem Fall wäre es wieder ein MUSS die andere Möglichkeit zu befolgen, um das Gebot der Nächstenliebe zu leben.
Es gibt aber einen wichtigen Faktor zu berücksichtigen: Das biblische Gebot heißt „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18; Markus 12, 31). Gesunde Nächstenliebe setzt die Selbstliebe voraus. Der Gedanke der Nächstenliebe kann also nicht gelten für Menschen, die der Überzeugung sind, bzw. wo es medizinisch feststeht, dass der Impfstoff schädlich sein kann. Interessanterweise hat das Bundesministerium für Gesundheit Anfang Oktober dieses Jahr eine Studie beauftragt, um die Beweggründe von Nicht-geimpften abzufragen[4]. Hier ein paar interessante Ergebnisse, wobei die Befragten mehrere Antworten ankreuzen konnten:
- 74% der Menschen geben an, den Impfstoffen nicht zu vertrauen
- 63% der Menschen geben an, Zweifel an der Sicherheit der verfügbaren Impfstoffe zu haben
- 62% der Menschen geben an, Angst vor Impfschäden und Langzeitfolgen der Impfung zu haben
- 38% der Menschen geben an, Angst zu haben, die Impfung nicht gut zu vertragen (während 41% angaben, jemanden zu kennen, der die Impfung nicht gut vertragen hat)
- 13% der Menschen geben an, dass die Impfung die Erfüllung eines Kinderwunsches verhindern würde
- 11% der Menschen geben an, dass ihnen ein Arzt von der Impfung abgeraten habe
- 7% der Menschen geben an, sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen zu dürfen
Man kann natürlich an dieser Statistik kritisieren, dass viele der Ängste und Zweifel, die hier aufgeführt sind, darauf zurückzuführen sind, dass die Menschen nicht „richtig“ aufgeklärt wurden. Allerdings ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass Informationen und Fakten sich nicht selbst auswerten. Es ist immer der Mensch, der am Ende über die Fakten urteilt, um sie als „richtig“ oder „nicht-richtig“ einzuordnen – und hier spielt immer die Prägung, Persönlichkeit und Weltanschauung des betroffenen Individuums eine Rolle. Je nachdem welche Brille man trägt, wird die Sonne anders aussehen. Daher müssen wir die Einschätzungen und Antworten der Menschen ernst nehmen und das Bild macht eine klare Aussage: theologisch gesehen wäre eine Impfung für viele Leute kein gesunder Ausdruck der Nächstenliebe.
Zusammenfassung
Nach dieser kleinen Analyse können wir schlussfolgern, dass, um von einem Gebot der Impfung aus christlicher Perspektive reden zu können, müsste man sicher sagen können, dass eine Impfung zu 100% dem christlichen Gedanken der gesunden Nächstenliebe entspricht. Da nicht jede Person in ihrem/ seinem Gewissen und aus medizinischen Gründen gesunde Nächstenliebe vorleben kann, müssen wir hier auf ein Adiaphoron schlussfolgern.
Die wichtige Frage lautet also: Soll ich mich aus Nächstenliebe impfen lassen? Wer sich in seinem Gewissen in der Lage fühlt, das „Schadenspotenzial“ des Impfstoffes zu überwinden und es für sich zu verantworten, tut gutes darin sich impfen zu lassen, um andere zu schützen. Sie/er ehrt Gott durch ihre/seine Entscheidung. Wer sich dagegen in seinem Gewissen nicht in der Lage fühlt, das „Schadenspotenzial“ des Impfstoffes zu überwinden und für sich zu verantworten, tut gutes darin sich nicht impfen zu lassen, um sich selbst (und anderen) nicht zu schaden. Sie/er ehrt Gott durch seine Entscheidung. Angewandt auf die jetzige Situation klingen die Worte Paulus in 1. Kor 8, 8-9 sehr relevant:[5]
„Aber die Impfung macht uns vor Gott nicht angenehm: Impfen wir uns, dann sind wir darum nicht besser; Impfen wir nicht, dann sind wir darum nicht geringer. Seht aber zu, dass diese eure Freiheit nicht etwa zu einem Anstoß für die Schwachen wird!“
Zwei Beobachtungen sind noch wichtig: Sollte sich eine Person aufgrund des „Schadenspotenzials“ der Stoffe gegen eine Impfung entscheiden, bleibt die Frage der Nächstenliebe weiterhin offen. Hier gilt es sich die Frage zu stellen: wie kann ich in dieser Pandemiezeit für den Schutz meiner Mitmenschen am besten sorgen? Denn da wo die Anwendung unserer Nächstenliebe durch eine Impfung ein Adiaphoron sein kann, ist die Nächstenliebe an sich ein Kernthema christlichen Lebens. Außerdem haben wir schon gesehen, dass ein Adiaphoron zu einem Gebot je nach Kontext werden kann. Hier im Lande werden immer mehr Gespräche zum Thema Impfpflicht geführt und das würde definitiv einen Konflikt schaffen, denn als Christen sind wir in der Pflicht den Gesetzen des Landes, in dem wir leben, zu befolgen. Über dieses Thema werden wir ausführlicher im Teil 2 des Corona-Talk reden.
Persönliche Anwendung
Was bedeuten nun diese Erkenntnisse unserer Überlegung für den Alltag? Drei Punkte kristallisieren sich:
1. Prüfe deine Motivation
Aus christlicher Sicht ist die Motivationsfrage, nämlich Nächstenliebe, wichtiger als Impfung an sich. D.h. Jede*r soll sich die Frage stellen, warum lasse ich mich impfen oder nicht. Lasse ich mich nur impfen, weil es die „vernünftige“, „sinvolle“ Entscheidung ist, dann kann es sein, dass ich dazu tendiere andere, die sich nicht impfen lassen als „unvernüntige“ Menschen zu verurteilen. Lasse ich mich nicht impfen, weil es mir darum geht, meine Selbstbestimmtheit gegenüber dem System zu bewahren, dann kann es sein, dass ich dazu tendiere geimpfte Leute als naiv und vom System gefangen zu verurteilen. In beiden Fällen sind Spannungen vorprogrammiert. Sehe ich andrerseits die Impfung als besten Weg der Nächstenliebe derzeit, dann bleibe ich auf dem Weg meine Mitmenschen schützen zu wollen, selbst wenn es immer neue Variante gibt, die die Impfung immer weniger effizient machen. Entscheide ich mich aus Selbstschutz gegen eine Impfung, bleibe mit der Frage der Nächstenliebe beschäftigt und achte besonders auf meinen Mitmenschen. Beide Wege sind konstruktiv, weil die Motivation stimmt.
2. Sei ein Begleiter des Gewissens
Das es sich bei diesen Fragen um ein Adiaphoron handelt, bedeutet, dass wir nicht den Auftrag haben, andere Menschen auf Impfung zu „missionieren“ und erst recht nicht zu verurteilen oder ihnen ein schlechtes Gewissen machen. Sondern unser primärer Auftrag besteht darin, Menschen – wo Bedarf und Offenheit existiert – in der Reflexion ihrer Motivation zu unterstützen. Wir müssen auch nicht zu allen Gesprächen rund ums Thema Corona/Impfung etwas sagen. Wichtig sind die Momente, wo wir Gelegenheit finden die Reflexion von Geimpften und Nicht-Geimpften bzgl. der Nächstenliebe zu unterstützen. Dieser Auftrag könnte sogar heißen, Menschen, die sich aus Selbstschutz gegen eine Impfung entscheiden aber ein schlechtes Gewissen deswegen haben, zu zeigen, dass sie mit ihrer Position Gott ehren.
3. Bleibe informiert
Wie wir gesehen haben ist die Impffrage eine Frage der Nächstenliebe und wir müssen erkennen, dass sich unser Gewissen von den Informationen nährt, die es bekommt. Es ist also wichtig, dass jede Entscheidung in die eine oder andere Richtung eine informierte Entscheidung ist und bleibt, denn die Situation entwickelt sich und mit ihr verändert sich auch die Informationslage. Wichtig ist auch darauf zu achten, keine einseitigen Informationsquelle zu beziehen, um bessere Entscheidungen treffen zu können.
Du hast Anmerkungen, Fragen, Kritik? Schicke sie uns gerne an gotterleben@kircheamstart.de.
[1] D.A., Carson, On Disputable Matters, https://www.thegospelcoalition.org/themelios/article/on-disputable-matters/ , 14.12.2021.
[2]Adiaphora ist die Pluralform von Adiaphoron.
[3] D.A., Carson, On Disputable Matters, https://www.thegospelcoalition.org/themelios/article/on-disputable-matters/ , 14.12.2021.
[4]Befragung von nicht geimpften Personen, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Befragung_Nichtgeimpfte_-_Forsa-Umfrage_Okt_21.pdf, 14.12.2021
[5]Ich ersetze essen durch impfen.